Ende Juli 2008 fahren wir durch Lappland Richtung Norden, unsere Lieblingshimmelsrichtung, bis nach Abisko. Abisko, das sind ein kleiner Ort, eine Landschaft und ein Nationalpark. Der Name leitet sich aus der samischen Sprache ab und bedeutet so viel wie „Wald am Meer“. Das Meer ist der Nordatlantik, der nur wenige Kilometer auf norwegischer Seite entfernt liegt, und der Wald besteht hier aus nur wenige Meter hohen Fjällbirken ( Betula pubescens subsp. tortuosa ). Hier wollen wir auf eine 110 km lange Wandertour mit Rucksack und Zelt durch das schwedische Hochfjäll starten. Wird unsere Kondition ausreichen? Wie wird das Wetter sein? Das waren so ein paar Fragen, die uns im Vorfeld beschäftigten. Schließlich ist es keine Tour bei der man zwischendurch in einen Bus einsteigen kann, um sich zum Auto zurückfahren zu lassen. Keine Ortschaften, keine Straßen und in alle Richtungen kommt man nur zu Fuß weiter. Und das ist das Schöne an solchen Touren, denn alles muss man sich mit eigener Muskelkraft erarbeiten bzw. verdienen.
Tourenkarte
1. Tag (15 km, Abisko - Abiskojaurestugorna) Auf dem Parkplatz der Abisko Touriststation fanden wir noch einen Stellplatz fürs Auto und so um 16:30 Uhr startet unser kleines Abenteuer. Da es zu dieser Jahreszeit nicht dunkel wird, stellt die späte Nachmittagsstunde kein Problem dar, um noch im hellen ans Ziel zu gelangen.
Auf den ersten Kilometern begegnen wir noch so einigen Kurzwanderern, die von Abisko einen Rundkurs gehen. Durch Fjällbirkenwald und vom Rauschen des Abiskojåkka begleitet geht es weiter. Der Pfad ist hier noch ganz gut begehbar, nur der Rucksack beginnt langsam zu ziehen und zu drücken. Karin ist mit 17 kg beladen und ich mit 22 kg, das ist ganz ordentlich und eigentlich vom Gewicht schon grenzwertig. Auf offenen Moor- und Kahlflächen eröffnet sich uns der Blick auf die ersten von Schneefetzen bedeckten Fjällgipfel.
Den See Abiskojaure (Ábeskojávri*) erreichen wir ca. nach 9 km. Mittlerweile haben wir schon 2 oder 3 Pausen gemacht und bis zum Tagesziel den Abiskojaurestugorna (Abiskojaurehütten) sind es noch 4 km. So allmählich merken wir, dass ein langer Reisetag hinter uns liegt und die Rucksäcke werden auch nicht leichter. Dann taucht in der Ferne überm Birkenwald die Hüttenfahne auf, von der wir magisch angezogen werden, was die Erhöhung unserer Marschgeschwindigkeit bewirkt. Ein kleiner Abstieg, eine Hängebrücke und wir sind da. Als erstes werfen wir die Rucksäckle ab und holen tief Luft. Um ehrlich zu sein, wir würden jetzt nicht behaupten, dass die erste Etappe ein „Kinderspiel“ war. Aber es wird von Experten ja gesagt, dass sich der Körper von Tag zu Tag an diese Belastung gewöhnen wird. Wir sind auf Grund dieser Expertenbehauptung hoffnungsvoll. Nachdem wir von der Hüttenwartin (nicht Wirtin) in Empfang genommen wurden, unser Zelt aufgebaut ist und uns ein kulinarisches Nudelgericht haben schmecken lassen, denn auf der gesamten Tour sind wir Selbstversorger, gehen wir an den Strand. Nein, das ist kein Scherz oder erste Anzeichen eines Wanderkollapses. Es gibt hier wirklich einen Sandstrand. Allerdings ohne Sangria-Eimer-Partys, geölte Strandluder und deutsch wird auch nicht gesprochen. Gesprochen wird hier eigentlich überhaupt nicht, weil nämlich keiner da ist der spricht. Außer uns natürlich, zum Sprechen sind wir aber ehrlich gesagt zu müde. Darum geht es nach dem Strandausflug in die Schlafsäcke, obwohl es ja noch gar nicht dunkel ist, was es hier sowieso nicht wird. (* dies sind die auch auf Fjällkarten verzeichneten samischen Namen)
2. Tag (23 km, Abiskojaurestugorna - Alesjaurestugorna) Die halbe Nacht habe ich in so einem Pseudoschlaf verbracht. Kennt wohl fast jeder, irgendwie geschlafen und irgendwie auch nicht. Aber, dass ich müde aus dem Zelt gekrochen bin, kann ich auch wiederum nicht sagen. Nach einem Morgensüppchen sitzen die Rucksäcke wieder auf unseren Rücken, um sich durchs Fjäll schleppen zu lassen.
Die heutige Etappe hat es in sich. Abgesehen von der Streckenlänge geht es rauf ins Hochfjäll oberhalb der Baumgrenze, die hier so bei 600 – 700 m liegt. Der Trail durchs Birkenfjäll ist nicht lang und dann sehen wir vor uns bzw. über uns schon den Aufstiegsweg. Zwischen den Bergen Giron (samisch: Schneehuhn), 1.543 m, und dem Gårddenvárri, 1.154 m, geht es nach oben und dazu noch besser als ich es gedacht hätte. So konditionslos sind wir dann wohl doch nicht. Was zur echten Anstrengung wird, ist der immer steiniger werdende Pfad. Jedoch, die sich nach relativ kurzer Wegstrecke veränderte Landschaft ist grandios, für dieses Bergpanorama hat sich die Anstrengung gelohnt. Dazu spielt auch noch das Wetter mit. Am blauen Himmel hängen ein paar Quellwolken und es ist warm.
Alle 2- 3 km machen wir eine Pause, setzen die Rucksäcke ab, ziehen die Schuhe aus und was besonders wichtig ist, wir trinken viel Wasser. Die Trinkflaschen kann man bedenkenlos an kleinen Bächen auffüllen. Wir bewegen uns nun so auf 800 m ü. NN und vor uns taucht eine Gebirgsseenkette mit blaugrünem Wasser auf.
Weit, weit in der Ferne glitzert der Alesjaure (Alisjávri), an dessen Ende unser Ziel liegt. Bis dahin ist es aber noch ein sehr langer Weg von ca. 12 – 13 km.
Auf der Ostseite des Sees stehen die Häuschen des Samendorfes Alisjávri, das sicher nur in der Zeit der Rentierscheidung und Schlachtung voll bewohnt ist. Auf alle Fälle sind wir auch auf uralten Pfaden der Samis unterwegs, denn sie sind gleichfalls auf den Trecks mit ihren Rentieren zu den verschiedenen Weidegründen durch diese Täler gezogen. Kurz vor dem Tagesziel wird es noch mal so richtig moderig. Macht nichts, denn wir haben noch ordentlich Restpower.
Die Morgenwäsche findet im Fluss Aliseatnu statt, der direkt vor unserer Zelthaustür liegt. Auch wenn das Wasser wirklich eiskalt ist, muss es sein. Die herrlich klare Morgenluft und der lappländisch blaue Himmel lässt uns die Kälte des Wassers ganz gut ertragen. Schnell merken wir, dass die Mücken ebenfalls schon erwacht und dazu noch hoch erfreut über unsere Morgentoilette sind. „Ja, da kann man schon morgens ein Schlückchen „Roten“ zu sich nehmen.“ ist deren Tagesparole.
Der Šielmmánjira, ein rauschender Bach, kreuzt unseren Weg und lädt zur Mittagspause ein. Nach Tomatensuppe und ein paar Müsliriegeln geht es gestärkt weiter. Der Bach muss durchwatet werden. Er ist zwar etwas breiter, führt aber nur wenig Wasser. Von Stein zu Stein und auch mal mit den gut gewachsten Schuhen durchs flache Wasser, suchen wir uns jeder seine Furth. Der Aufstieg zur Tjäktjastugan kommt gleich nach der Watstelle.
Offensichtlich wird unsere Kondition immer besser, weil wir den Anstieg ohne Pause durchmarschieren können. Ich überlege, ob es nicht sogar möglich wäre, noch heute den Tjäktjapass zu übersteigen. Es ist 15:00 Uhr und bis rauf zum Pass sind es vielleicht noch 3,5 oder 4 km. Zwar wird es bis dahin weiter bergauf gehen, aber nur noch die letzten 200 -300 m sind laut Fjällkarte wieder steiler. Nachdem Karin meiner Idee zustimmt, setzen wir diese nach einer kurzen Rast in die Tat um.
Ja, diese Berge müssen uns wirklich richtig Kraft gegeben haben, wie es sprichwörtlich heißt, denn das Einrichten des Camps geht ganz flott.
Links und rechts vom Tal Tjäktjavagge stehen aufgereiht Gipfel, deren samische Namen Geargeoaivi, Sealggá, oder Guobircohkka lauten. Zwischen diesen Bergen liegen Seitentäler, die in einsame Fjällregionen führen. Nach dem Abstieg vom Pass beginnt das Tjäktjavaggi bei ca. 900 m Höhe und fällt nach 18 km auf etwa 700 m ü. NN bei den Singistugorna. Die das Tal einfassenden Berge erreichen Höhen bis fast 1.800 m. Die Nacht auf 1000 m unterhalb des Tjäktjapasses brachte für mich den ersten erholsamen Schlaf der Tour. Schon relativ früh sind wir raus aus den Schlafsäcken und es folgt der Ablauf wie jeden Morgen. Waschen im Bach, kleines Frühstück und Abbau des Camps.
Am Fuße des Berges Mádir angekommen, finden wir wieder einen herrlichen Zeltplatz mitten im Fjäll. Das Tal weitet sich hier nach Süden hin auf und erlaubt einen wundervollen Panoramablick in die Fjällwelt. Noch ist die Sonne nicht hinter den Bergen verschwunden, vor uns rauscht eine Stromschnelle des Tjäkjajåkka. „Hier bin ich Mensch hier darf ich‘s sein.“ Lange bleiben wir an diesem einsamen Plätzchen jedoch nicht ungestört. Carl von Linné, der berühmte schwedische Botaniker, soll ja auf seiner damaligen Lappländischen Reise gesagt haben: „Hier liegt das Paradies auf Erden, wenn die Mücken nicht wären.“ Und so ist es auch. Nachdem die Sonne hinterm Mádir verschwunden ist, bricht eine Mückeninvasion auf uns los. Wir sind bei solchen Attacken zwar nicht pingelig, aber irgendwann wird es uns dann doch zu nervig und wir verkriechen uns in die Schlafsäcke.
5. Tag (15 km, Mádir – Kebnekaise Fjällstation) Entspannt und ausgeruht sind wir sehr zeitig aus den Schlafsäcken gekrochen. Schon im Vorzelt werden wir von dutzenden Blutsaugern empfangen. Diese wirken äußerst nervös und ungehalten, denn am gestrigen Abend sind sie absolut nicht auf ihre Kosten gekommen. Natürlich ist das durchaus verständlich, denn wir wissen ja selbst, wie es uns mit einem hungrigen Magen geht. Draußen vor dem Zelt vergrößert sich die Schar der Culicidae aus der Familie der Gemeinen Stechmücke. Unsere Antwort auf diesen Überfall ist eine wirksame chemische Keule namens „Mygga“.
Der zweite Pass der Tour liegt vor uns. Um raus aus dem Tal Tjäktjavagge und rüber ins Láddjuvággi zu gelangen, geht es von 700 m ü. NN erst mal wieder rauf auf knapp 900 m. Oben angekommen empfangen uns ein paar herrliche kleine Seen und die steilen Bergflanken von Sinnjcohka (1.704 m) auf der Nordseite und Skárttoaivi (1.744m) im Süden. Der Pfad ist ein ständiges auf und ab. Hier oben entspringt der Bach Láddjuohka, der uns bis zum Ende der Wanderung übermorgen in Nikkaluokta begleiten wird.
Beim Abstieg nehme ich erst mal ein Bad im eiskalten Gebirgswasser und wir ruhen uns auf einer der herrlichen Bergwiesen unterhalb des Berges Tuolpagorni (Duolbagorni, 1.662 m) aus. Dieser hat ein sehr markantes Profil, denn sein Gipfel erinnert etwas an einen Vulkankrater. Riesige Geröllfelder haben sich am Bergfuß gesammelt. Der Prozess der Verwitterung von Gestein ist sehr anschaulich nachvollziehbar. Auf der Bergflanke gegenüber ist wie ein dünner Faden der Auf-, Abstiegsweg zum Kebnekaise zusehen. Das Tal wird immer breiter und der Weg ist bequem zu laufen.
Entgegenkommende Wanderer, die nun immer zahlreicher werden je näher wir der Fjällstation kommen, wirken zum Teil noch ganz schön alltagsgestresst. Einige grüßen nicht, andere können es nicht abwarten, bis man eine schwierige Passage überwunden hat. Einer „rast“ ohne Rücksicht auf Verluste an uns vorbei. Nach 5 Tagen im Fjäll sind wir ziemlich relaxt und nehmen es den Gestressten nicht übel.
Nach dem wir unser Zelt aufgestellt und ausdauernd geduscht haben, geht es erst mal in den Gemeinschaftsraum. Dort sind schon ein Haufen Leute versammelt, die sich wohl zum großen Teil zu kennen scheinen. In den Gesprächen geht es fast nur um den Kebnekaise und ihre Gipfelsiege. An der Rezeption wird das Bier „Kungsleden“ ausgeschenkt. Mit 69 SEK hat der halbe Liter einen überaus deftigen Preis. Aber es schmeckt gut und die 5,3 % Alkohol machen uns auch angenehm beschwingt. Nach der Esseneinnahme in der Gemeinschaftsküche fallen wir tot müde ins Zelt und bis zum nächsten Morgen in einen erholsamen Schlaf.
6. Tag (19 km, Kebnekaise Fjällstation – Nikkaluokta)
Unseren letzten Wandertag beginnen wir mit einem herrlich abwechslungsreichen Frühstück im Restaurant der Fjällstation. Mittlerweile hat es doch tatsächlich angefangen zu regnen. Nach dem Aufbruch zur letzten Etappe kommen wir gleich zu Beginn in den Fjällbirkenwald, der uns bis zum Ende der Tour begleiten wird. Ehrlich gesagt ist der Trail ganz gut begangen und wir machen immer wieder Platz für Schnellläufer die an uns vorbei wollen. Die meisten scheinen das Boot am See Láddjujávri erreichen zu wollen, aber bis dahin sind es noch gute 10 km. Beim Blick zurück können wir noch einmal Abschied nehmen von der Bergwelt des Kebnekaise Massivs. Der Kratergipfel des Tuolpagorni (Duolbagorni) ist der markanteste von allen. Wir überholen eine Gruppe junger Leute. Ein Mädchen hat sich offensichtlich das Knie verletzt und kommt nur sehr langsam voran. Aber die Gemütsverfassung der Truppe lässt uns guter Hoffnung sein, dass sie das Ziel Nikkaluokta erreichen werden.
Bis zum Ziel sind es nur noch schlappe 5 km, ein Klacks. Bald taucht die Kirchturmspitze von Nikkaluokta über den Fjällbirken auf. Wie von einem Magnet angezogen laufen wir auf den letzten Kilometern. Dann ein Schild „400 m Nikkaluokta“. Auf dem mit Rindenmulch angedeckten Weg ist das Laufen für uns mehr ein Schweben. Und dann stehen wir unterm Zieltor „Nikkaluokta“. Am späten Nachmittag bringt uns der Bus nach Kiruna und nach 2 Stunden Aufenthalt geht es weiter zur Abisko Touriststation, wo unser Auto steht. Es ist bereits später Abend als wir dort ankommen. So ein richtiges Bett wäre in dieser Nacht einfach toll und so gönnen wir uns ein Doppelzimmer in der Abisko Mountainlodge. Von den Erlebnissen unserer Tour durchs lappländische Hochfjäll sind wir noch ganz aufgekratzt. Zur Feier des Tages wird eine Flasche Rotwein aufgemacht und bis nach Mitternacht erzählen wir mit gegenseitiger Begeisterung von unserer Wanderung. Eins ist sicher, von diesem kleinen Abenteuer werden wir noch Ewigkeiten zehren können.
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